Checklisten in der Wirtschaftsprüfung: Selbstzweck oder Chance?

Digitalisierung & Innovation
18. Januar 2022

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Lassen sich Checklisten auf diesen einfachen Nenner bringen? Welche Rolle spielen sie in der Abschlussprüfung? Oder ist das Format längst überholt? Im Interview erklären Kjer Dabelstein, Senior Auditor bei Mazars, und Andreas Schindler, Gründer und Geschäftsführer des Berliner Start-ups Deep Neuron Lab, warum Checklisten seit Jahren immer komplexer werden und wie sie mithilfe disruptiver Technologien ins 21. Jahrhundert gelangen.

Für die Nicht-Prüfer*innen auf unserem Blog: Was ist eine Checkliste?

Kjer Dabelstein: Eine Checkliste ist eine Sammlung an Fragen oder Anweisungen, die beantwortet oder befolgt werden müssen, um die korrekte und vollständige Ausführung einer Prüfung oder eines Prüfprozesses sicherzustellen und zu dokumentieren.

Andreas Schindler: Gerade die Checklisten der Wirtschaftsprüfer*innen, die von gesetzlichen Vorschriften oder Prüfungsstandards abgeleitet werden, sind umfangreiche Dokumente. Ihre Beantwortung benötigt viele Stunden manueller Arbeit, weshalb wir hier auch ein großes Potenzial für Automatisierung gesehen haben.  

Wo werden Checklisten eingesetzt?

Dabelstein: Checklisten kommen immer dann zum Einsatz, wenn wichtige Inhalte vorhanden sein müssen oder wenn Prozesse korrekt eingehalten werden müssen. Was Jahresabschlüsse angeht, werden sie sowohl bei der Erstellung als auch bei der Prüfung eingesetzt. Es geht um Vollständigkeit. Das ist hier das Stichwort.

Warum braucht der*die Wirtschaftsprüfer*in solche Checklisten?

Dabelstein: Die Bereitstellung verlässlicher Unternehmenskennzahlen durch den*die Wirtschaftsprüfer*in ist im öffentlichen Interesse: Investoren, Kunden, Lieferanten, Behörden – sie alle stützen ihre Entscheidungen auf Informationen, denen sie vertrauen müssen. Mit dem Testat garantiert der*die Prüfer*in einen in wesentlichen Bestandteilen fehlerfreien Jahresabschluss. Weil es dafür belastbare Belege braucht, wird bei unterschiedlichen Prüfungshandlungen auf Checklisten zurückgegriffen. Mit einer ausgereiften Checkliste können Wirtschaftsprüfer*innen a) sicherstellen, dass wesentliche Inhalte vorhanden sind, und b) dieses Vorhandensein belastbar dokumentieren.

Wo liegen die Herausforderungen beim Einsatz von Checklisten?

Dabelstein: Checklisten sind über die Jahre sehr komplex und äußerst umfangreich geworden. Ein Beispiel: Jeder Jahresabschluss hat einen sogenannten Anhang. Dieser ist per Gesetz ein wesentlicher Bestandteil des Jahresabschlusses. Mithilfe einer Checkliste wird der Inhalt des Anhangs auf Vollständigkeit der gesetzlichen Vorschriften geprüft. Ein Blick ins Handelsgesetzbuch (HGB) zeigt, dass es zu den Inhalten des Anhangs die meisten gesetzlichen Vorschriften gibt. Der entsprechende Paragraf hat mehr als 30 Nummern und ist damit quasi Spitzenreiter im HGB. Kein Wunder, dass die entsprechende Checkliste ähnlich viele Seiten hat, wie der Paragraf Unterpunkte besitzt. Das Problem: Steigt die Komplexität im Unternehmensumfeld und/oder im Gesetzbuch, bläht sich die dazugehörige Checkliste gleichermaßen auf.

Schindler: So wird aus der ursprünglich „schicken“ Arbeitshilfe nach und nach etwas Behäbiges und Unverständliches. Checklisten zermürben die Nutzer*innen durch ihre Eintönigkeit und Länge, anstatt sie zu unterstützen.

Sind Checklisten demnach mehr Selbstzweck als Chance?

Dabelstein: Für mich steht fest, dass Checklisten in der heutigen Form eher sich selbst dienen, anstatt die Nutzer*innen zu unterstützen oder gar zu entlasten. Dabei wäre Letzteres durchaus möglich, würde sich der Umgang mit Checklisten grundlegend ändern.

Schindler: Früher ist sehr viel Know-how in den Aufbau von Checklisten geflossen. Jetzt gilt es, das Know-how mithilfe moderner Technologien zu neuen Lösungen weiterzuentwickeln.

Dabelstein: Stimmt! Natürlich werden Checklisten damit nicht abgeschafft. Aber es müssen endlich wieder die Prüfer*innen im Fokus stehen – und nicht die Checklisten selbst.

Was passiert, wenn innovative Ideen auf alte Prozesse stoßen?

Schindler: Um innovative Ideen zu entwickeln, ist das Wichtigste zunächst, das Problem zu verstehen. Anschließend muss man den alten Prozess dagegenhalten und prüfen, was davon bisher richtig und nützlich war, um das Problem zu lösen. Die Differenz daraus ist der Raum, in dem Innovation wirken kann und notwendig ist. Dabei muss der Prozess vor allem ganzheitlich betrachtet werden. Eine Lösung, die nicht zu bestehenden Prozessen passt, ist genauso wenig hilfreich wie eine, die die Auseinandersetzung mit neuen Technologien scheut.

Dabelstein: Da schließe ich mich Andreas an. Eine Organisation muss offen dafür sein, bestehende Prozesse und Arbeitsweisen zu hinterfragen. Mich hat Mazars stark geprägt: Innovation ist ein wesentliches Element unserer Unternehmenskultur. Die Ideen und Impulse der Mitarbeitenden werden unabhängig von Karrierestufe und Unternehmenszugehörigkeit gehört, geschätzt und – noch viel wichtiger – objektiv beurteilt.

Können Sie das an einem Beispiel festmachen?

Dabelstein: Mazars hat einen eigenen Inkubator, wo Ideen gesammelt, geprüft und bis zur Investitionsentscheidung auch gecoacht werden. Alle Mazarians haben die Möglichkeit, sich und ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Natürlich kann der Impact von Projekt zu Projekt variieren, aber im Grunde bringt jede Idee unser Unternehmen ein Stückchen weiter. Um auf kluge Lösungen für Checklisten zurückzukommen: Auch hierfür wurde ein Projekt durch den Inkubator in das Alltagsgeschäft integriert. Schritt eins war, die inhaltlichen Kernpunkte zu sichern. In Schritt zwei wurden sie in ein neues Format transferiert, das sich am Idealprozess orientiert. Somit wird das bisher erworbene Expertenwissen erhalten und mithilfe neuer Technologien in ein kluges innovatives Tool verwandelt.

Schindler: Bei den neuen Technologien kamen wir ins Spiel. Wir bei DNL haben uns auf die Analyse von Finanzberichten mithilfe von Machine Learning spezialisiert. Ein Unternehmen wie Mazars muss Projekte dieser Art nicht ausschließlich mit eigenen Kräften stemmen. Als Kjer auf uns zukam, hatten wir schnell ein gemeinsames Verständnis, wo wir mit diesem Projekt hinwollten.

Gehört der Einsatz von KI zu den Ideen, die Sie intern diskutieren?

Dabelstein: Selbstverständlich. Das Potenzial von Künstlicher Intelligenz (KI) ist zwar noch nicht abschließend erforscht und schon gar nicht der Einfluss von KI auf die Wirtschaftsprüfung. Aber ich sehe hier die große Chance, bestehende und künftige Herausforderungen mithilfe von KI zu lösen. Der Vorteil für Checklisten besteht darin, dass immer gleiche Fragen, die sich beispielsweise aus einem Gesetz ergeben, nach ähnlich gearteten Antworten suchen. Dieser Umstand bietet ideale Anknüpfungspunkte an Machine Learning. Ein Algorithmus ist in der Lage, wiederkehrende Muster in Daten und Dokumenten zu erkennen und diese Muster mit Fragen aus einer Checkliste zu verknüpfen.

Schindler: Voraussetzung dafür ist, dass jemand diesen Algorithmus bis zu einem gewissen Signifikanzniveau angelernt hat. KI, die auf Machine Learning basiert, hat ein enormes Potenzial. Um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, müssen die Algorithmen angelernt werden. Je komplexer die Aufgaben sind, die durch KI gelöst werden sollen, desto komplexer müssen auch die angelernten Zusammenhänge sein. Aus diesem Grund entwickeln wir Lösungen, bei denen Mensch und KI zusammenarbeiten. Künstliche Intelligenz unterstützt den Menschen bei seiner Arbeit. Sie nimmt ihm die manuellen und zeitaufwendigen Aufgaben ab. Dadurch kann sich der Mensch auf die komplexen Herausforderungen konzentrieren. Mit der Zeit lernt die KI vom Menschen und kann ihm so immer komplexere Aufgaben abnehmen. Und nein, der Mensch wird nicht durch KI ersetzt. Dazu sind die Aufgaben der Wirtschaftsprüfer*innen viel zu anspruchsvoll. Aber die KI wird ein sehr nützlicher Helfer sein.  

Wie sieht eine optimale Lösung für Checklisten aus?

Dabelstein: Man kann sich bestimmt noch das eine oder andere Luftschloss bauen, aber für die zukünftige Arbeit mit Checklisten wünsche ich mir zwei Grundprinzipien: Erstens muss sichergestellt werden, dass der*die Nutzer*in einer Checkliste sich nur mit den Fragen und Aufgabenstellungen beschäftigt, die auf das zu prüfende Unternehmen anwendbar sind. Fragen, die nicht anwendbar sind, sollten den*die Nutzer*in nicht aufhalten dürfen. Zweitens sollte eine Technologie den*die Nutzer*in darin unterstützen, relevante Sachverhalte zu identifizieren. Die Hauptaufgabe von Prüfer*innen ist nämlich nicht die Suche nach diesen Sachverhalten, sondern deren kritische Würdigung. Die Vollständigkeit der Angaben wird in diesem Fall ebenfalls durch eine technologische Lösung sichergestellt.

Muss sich gleich alles ändern?

Dabelstein: Nein, natürlich nicht. Ich finde mindestens einen der oben skizzierten Lösungswege erstrebenswert, wenn es um die Arbeit mit Checklisten geht. Vielleicht identifiziert man auch einen Anwendungsfall, in dem beide Möglichkeiten gemeinsam nebeneinander existieren können.

Schindler: Ändern muss sich weder alles noch gleich. Ich würde eher dafür werben, diejenigen Checklisten zu überprüfen, die schon ein wenig in die Jahre gekommen sind. Man sollte sich fragen, ob sie ihren Nutzer*innen tatsächlich noch den Nutzen bringen, den sie ursprünglich mal versprochen haben – oder ob man die Checklisten durch den Einsatz intelligenter Lösungen noch nützlicher machen kann.

Welcher Impact kann hieraus abgeleitet werden?

Dabelstein: Wer Checklisten in der Wirtschaftsprüfung einsetzt, weiß erstens um ihre Bedeutung und zweitens um den mit der Bearbeitung verbundenen Zeitaufwand. Ändert sich der Umgang mit Checklisten, kann der Impact von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Ich würde hier nicht pauschal urteilen, halte aber große Fortschritte in der Automatisierung für möglich. Im Ergebnis wären die Bearbeitungszeiten kürzer und unsere Mitarbeiter*innen besser gefordert.  

Schindler: KI hat ein enormes Potenzial und entwickelt sich rasant weiter. Wir werden in fünf Jahren Entwicklungssprünge sehen, für die früher 30 bis 50 Jahre nötig waren. Das wird unseren Arbeitsalltag von Grund auf verändern. In zehn Jahren wird man sich wahrscheinlich nicht mehr vorstellen können, wie wir heute so arbeiten konnten.


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