Automobile Lieferketten fordern die Prüfung heraus

Reform & Debatte
1. Februar 2022

Ob Chip- und Rohstoffmangel, Stau am Suezkanal oder Grenzschließungen in der Pandemie – die globalen Lieferketten der Automobilbranche sind einer Zerreißprobe ausgesetzt. Stehen die Produktionsbänder still, steigt der Druck weiter. Welche Folgen ergeben sich daraus für die Berichterstattung der Unternehmen? Und was bedeuten unterbrochene Lieferketten für die Prüfung von Jahresabschlüssen und Lageberichten?

Ausgebremst von Rohstoffpreisen

Das Auto ist ein Paradebeispiel globalisierter Fertigung. Der Preisanstieg bei Stahl, Aluminium, Lithium und Kautschuk trifft die Automobilhersteller besonders hart. Nach einer Studie der Unternehmensberatung AlixPartners liegen die aktuellen Rohstoffkosten pro Fahrzeug bei 3.600 € und damit 92 Prozent über dem Vorjahr. Diese Entwicklung dürfte den Automobilsektor noch über mehrere Jahre bremsen, so die Studienautor*innen.

Der Stahlpreis ist auf ein Rekordniveau gestiegen und hat sogar sein Allzeithoch aus dem Jahr 2008 übertroffen: In den letzten 12 Monaten stieg der Preis für den in vielen Branchen benötigten warmgewalzten Stahl von 400 auf über 1.000 € pro Tonne. Die Zeiten, in denen sich hiesige Stahlhersteller über Absatzprobleme wegen asiatischer Billigimporte beklagten, sind vorbei. ThyssenKrupp, der europäische Branchenprimus, sprach kürzlich von einem „Stahlengpass in Europa“.

Weil China seit Wochen kaum noch Magnesium liefert, wird weltweit auch das Aluminium knapp. Mit einem Marktanteil von fast 90 Prozent ist die Volksrepublik der mit Abstand größte Magnesium-Produzent der Welt. Magnesium ist Bestandteil vieler Aluminiumlegierungen. In einem herkömmlichen Pkw sind rund 150 Kilogramm Aluminium verbaut, beim Elektroauto sind es sogar bis zu 600 Kilogramm.

Wenn möglich: bitte wenden!

Stichwort Verkehrswende. Auf deutschen Straßen steigt die Zahl der E-Autos. Im Juli 2021 versprach der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier einen „rasanten Wandel hin zu nachhaltiger Mobilität“. Will Deutschland die Klimaziele im Verkehrssektor einhalten, müssten hierzulande bis 2030 rund 14 Millionen Fahrzeuge mit Batteriebetrieb fahren. Dafür braucht es – logischerweise – Batterien. Für 2030 sind weltweit Batteriezellenwerke mit mehr als 2.000 Gigawattstunden angekündigt (Quelle: Roland Berger). Aber wie sollen die dafür benötigten Rohstoffe so schnell gewonnen werden? Beispiel: Lithium. Nach Angaben von Benchmark Mineral Intelligence ist der Lithiumpreisindex dieses Jahr um 240 Prozent gestiegen. Grund dafür ist die Angst vor einer langfristigen Verknappung des Rohstoffs. Lithium ist ein wichtiger Bestandteil wiederaufladbarer Batterien.

Kein Grip: die Bodenhaftung verloren

Was wären Autos ohne Reifen? Auch hier müssen sich alle auf höhere Kosten einstellen. Im ersten Halbjahr lag der Mittelwert für Naturkautschuk, eines der Hauptmaterialien bei der Reifenproduktion, 57 Prozent über dem Vorjahr. Mit dem Ölpreisanstieg hat sich auch der auf petrochemischer Basis hergestellte synthetische Kautschuk stark verteuert.  

Vom Chip gesteuert

Kein Auto kommt mehr ohne intelligente Halbleiter aus. Sie sind ein zentrales Bauteil und damit auch eine Art Rohstoff. Seit mehr als sechs Monaten bringt der Chipmangel die Autobauer aus dem Takt, führt zu Produktionsausfällen und längeren Lieferfristen für Neuwagen. Die Gründe für die Halbleiterproblematik reichen von der hohen Nachfrage aus der IT-Branche bis hin zu pandemiebedingten Produktionsausfällen der Chiphersteller. Dass China, das größte Förderland für Silizium, seine Fördermenge in der Provinz Yunnan um 90 Prozent gedrosselt hat, kommt erschwerend hinzu: Binnen acht Wochen hat sich der Siliziumpreis vervierfacht. Silizium ist der wichtigste Rohstoff für Mikrochips.

Lahmgelegt von Cyberkriminellen

Eine Ursache für Lieferkettenengpässe und Produktionsstörungen kommt aus einer ganz anderen Richtung: Cyberkriminalität. Am 24. Oktober 2021 legte ein Hackerangriff weite Teile der IT-Systeme von Eberspächer lahm, einem Automobilzulieferer aus dem schwäbischen Esslingen. Inzwischen sei die Produktion wieder weitgehend in den Normalbetrieb überführt worden, meldete Eberspächer im November. Sicherheitsexpert*innen warnen dennoch vor langfristigen Folgen: Es könne Monate dauern, bis sich Lieferketten von solchen Hackerangriffen erholen, so der Tenor.

Unfreiwilliger Boxenstopp

Die automobile Lieferkette ist ein global ausgerichteter, mehrstufiger Wertschöpfungsprozess, der häufig „just in sequence“ erfolgt: Die benötigte Ware wird zeit- und mengengenau an den richtigen Platz geliefert und sofort verarbeitet. Abweichungen oder gar Unterbrechungen dieser Logistik können erhebliche Auswirkungen auf die Abschlüsse und Lageberichte der zu prüfenden Unternehmen haben.

Bei der Bewertung der hergestellten Fahrzeuge, Komponenten oder Teile dürfen Abschreibungen auf die Produktionsanlagen sowohl nach den internationalen Rechnungslegungsvorschriften (International Financial Reporting Standards, IFRS) als auch nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches (HGB) einbezogen werden. Allerdings müssen diese Abschreibungen um sogenannte „Leerkosten“ oder „Unterbeschäftigungskosten“ bereinigt werden.

Kommt es zu Produktionsstillständen durch Lieferengpässe und damit zu einer geringeren Nutzung der Produktionsanlagen, hat das Folgen für die Bewertung des Vorratsvermögens, zu dem Fahrzeuge und Teile gezählt werden. Prüfungsschwerpunkte können die zeitliche Erfassung der Produktionsstillstände und die korrekte kalkulatorische Umsetzung dieser Zeiten sein.

Haben Lieferkettenprobleme auch Auswirkungen auf die Bewertung der Produktionsanlagen? Das kommt ganz darauf an. Für Produktionsanlagen sind Abschreibungen auf den niedrigeren beizulegenden Wert vorzunehmen, sofern sie voraussichtlich dauerhaft wertgemindert sind. Solche Abschreibungen könnten in Betracht kommen, wenn die Lieferengpässe über einen längeren Zeitraum anhalten und die Produktionsvolumen spürbar zurückgehen. Allerdings gilt diese Regelung eher für stillgelegte oder technologisch veraltete Anlagen sowie für strukturelle Marktveränderungen. Phasenweise Stillstände wegen Verknappungen in der Lieferkette gehören nicht dazu. Außerdem bleibt die Frage, ob die Wirtschaftsprüfer*innen akzeptieren, dass die Wertminderung wirklich von Dauer ist. Das hängt nämlich davon ab, ob ausgefallene Produktionsvolumen in der Zukunft wieder aufgeholt werden können und ob in den kommenden Jahren mit weiteren Stillständen gerechnet wird. Ähnliche Fragestellungen ergeben sich für die Werthaltigkeit eines bilanzierten Goodwills oder für den Wert von Entwicklungskosten.

Wie weit reicht der Reservetank?

Für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften sind Rückstellungen zu bilden. In der Automobilbranche werden Verträge für Teile- und Komponentenlieferungen häufig für die gesamte Laufzeit eines Fahrzeugmodells abgeschlossen. Startet die Produktion eines neuen Modells, erwarten Automobilhersteller und Zulieferer einen Gewinn aus den Lieferungen. Wenn nun die Verknappung der Rohstoffe dazu führt, dass die Rohstoffkosten steigen, der Zulieferer beim Hersteller aber keine entsprechende Erhöhung des Teilepreises durchsetzen kann, wird im schlimmsten Fall der gesamte Vertrag für den Zulieferer verlustträchtig. Bei solchen Verträgen ist für die Restlaufzeit eine sogenannte „Drohverlustrückstellung“ zu bilden. Die Bewertung dieser Rückstellung ist für die Wirtschaftsprüfer*innen besonders schwierig, weil auch die künftige Entwicklung der Lieferengpässe berücksichtigt werden muss – was dem Bilanzierenden einen erheblichen Ermessensspielraum eröffnet.

Immer noch auf der schnellsten Route?

Zu den wesentlichen Elementen der zukunftsorientierten Berichterstattung gehören der nach § 289 HGB jährlich zu erstellende Prognosebericht über die voraussichtliche Entwicklung des Unternehmens sowie der Chancen- und Risikobericht. Beide Berichte sind Teil des Lageberichts.

Die Prognosen werden für die wichtigsten finanziellen und nichtfinanziellen Leistungsindikatoren erstellt. Dazu gehören Umsatzerlöse, Volumen und Margen. In ihrem Chancen- und Risikobericht erläutern Unternehmen diejenigen Risiken, die wesentlichen Einfluss auf ihre wirtschaftliche Lage haben können. Dazu zählen auch Risiken aus der Entwicklung des Beschaffungsmarktes, allen voran Verfügbarkeiten und Preisänderungen. Diese Entwicklungen sind dann für jede Störung der Lieferkette – zum Beispiel durch Lieferprobleme bei Stahl, Magnesium, Kautschuk oder Halbleitern – einzeln einzuschätzen. Das gilt auch für die zu erwartenden Folgewirkungen wie beispielsweise Kurzarbeitergeld und Restrukturierungen.

Wirtschaftsprüfer*innen beurteilen nicht einfach nur die Plausibilität der Prognoseberichte ihrer Mandant*innen. Sie übernehmen Verantwortung für die Einschätzung globaler Marktentwicklungen und deren Auswirkungen auf die Unternehmen. 


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